MEIN BLOG
Neben dem Schreiben von Gedichten und Reden für Trauerfeiern oder Gedenkfeiern, schreibe ich seit 2020 auch Kurzgeschichten. In diesem Blog sind vor allem jene Geschichten zu finden, die einen Bezug zum Thema Tod, Trauer & Trauerreden haben.
Danke fürs Lesen, herzlichst Eure Barbara <3
Helga und der Opernball
Es ist Punkt 21 Uhr und ich warte wie vereinbart vor der Wiener Oper auf meine Freundin Helga. Heute ist endlich der Abend, auf den wir uns schon so lange freuen. Wir besuchen den Opernball. Ich bin super aufgeregt, denn für mich ist es das erste Mal. Helga war schon einige Mal am Ball der Bälle. Das letzte Mal mit ihrem Mann Adolf, der leider vor 20 Jahren verstorben ist. Und nun, 20 Jahre später, habe ich die Ehre, sie zu begleiten und ihren Wunsch, diesen Ball noch einmal zu besuchen, zu erfüllen. Ich bin gespannt, ob sie das rote oder das blaue Kleid trägt. Sie hat mir von beiden erzählt und meinte, ich soll mich überraschen lassen.
Plötzlich steht sie vor mir. Ich traue meinen Augen nicht. Sie sieht umwerfend aus, fast märchenhaft. Ihr weißes Haar ist kunstvoll hochgesteckt und von goldenen Haarnadeln durchzogen, die das Licht in alle Richtungen reflektieren. Einige Locken umrahmen ihr Gesicht und ihre Augen funkeln. Sie hat sich für das Mitternachtsblaue entschieden und dieses betont ihre wunderschönen, hellblauen Augen. Der Stoff fällt in weichen Linien und schimmert, als wäre er mit Sternenstaub bestreut. Das Kleid ist hochgeschlossen und die langen Ärmel enden glockenförmig. Um ihr Handgelenk schmiegt sich ein zartes Armkettchen. Ich kenne diese Armband, es ist ein Erinnerungsstück an ihren geliebten, verstorbenen Adolf. Ihre Ohrringe sind aus einem kleinen, goldenen Ring an dem ein winziger Anhänger, ein Herz hängt. Auch diese sind von Adolf. Helga hat sie bekommen, als die gemeinsame Tochter geboren wurde. Ihre Schönheit ist atemberaubend. Obwohl sie betagt ist, strahlt sie eine Vitalität aus, die ihrer Umgebung Leben einhaucht. Hatte ich schon erwähnt, dass Helga 90 Jahre ist?
"Da bist du ja!", ruft sie mit fester Stimme, die vor Freude vibriert. "Heute Abend werde ich dir all die Leute vorstellen, die ich ewig nicht mehr gesehen habe und natürlich werden wir tanzen, meine Liebe, tanzen, bis die Musik aufhört und zwischendurch trinken wir auch ein Gläschen Sekt oder auch zwei!" Ihre Begeisterung ist richtig ansteckend. Ich lächle, nehme ihren Arm und gemeinsam betreten wir das Foyer der Oper - der Ball der Bälle kann beginnen.
Diese Geschichte ist nicht wahr. Helga war nie am Opernball, wir waren auch nie gemeinsam dort. Wahr ist, dass ihr Gedächtnis schon sehr müde war, nicht aber ihre lebhafte Fantasie. Helga konnte so erzählen, dass ihre Träume zur Realität wurden und bei meinen Besuchen unterstützte ich sie in ihrer berührenden Wahrhaftigkeit. Vor einer Woche bekam ich die traurige Nachricht, dass sie zu ihrem Adolf gegangen ist. Ich zündete eine Kerze an und erinnerte mich an die schönen Märchen, die wir gemeinsam durchlebten.
"Liebe Helga, ich sende eine feste Umarmung hinauf zu dir - du warst eine großartige, warmherzige und sehr weise Frau - danke, dass ich dich ein kleines Stück begleiten durfte und vielleicht hast du ja jetzt die Möglichkeit mit Richard Lugner über alles zu plaudern, was du schon immer über den Opernball wissen wolltest. Lieber Richard, tanzen Sie doch bitte einen Tanz mit Helga, vielen Dank! Ich trinke ein Gläschen auf euch beide - ruhet in Frieden."
© Barbara Fath 2024-08-31
Die Verabschiedung am Hügel
Nach langer Zeit sollte es endlich wieder ein Treffen am Hügel geben, ein magischer Ort versteckt in den Weinbergen, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Bei ihren Treffen war es üblich, dass jeder Essen zum Teilen und Geschichten zum Erzählen mitbrachte. Sie waren eine Gemeinschaft, in der sie einander zuhörten und sich vertrauten. Bei Problemen fanden sie immer Wege und Lösungen. Gemeinsam waren sie stark. Sie kannten sich seit Kindheitstagen und es verband sie eine tiefe Freundschaft und viele gemeinsame Abenteuer. Manchmal vergingen viele Monate bis sie sich wieder sahen, doch sobald Viktor ein Treffen am Hügel ausschrieb, kamen alle verlässlich. Ihre Zusammenkünfte waren ihnen heilig und sie genossen die freudigen und bereichernden Stunden im Kreise der geliebten Freunde. Danach gingen sie wieder getrennte Wege bis zum nächsten Treffen.
Doch diesmal kam die Einladung nicht von Viktor, sie kam von seiner Lebenspartnerin Mona und der Inhalt ließ sie alle erstarren. Viktor lebte nicht mehr. Im Schreiben bat Mona alle Freunde zur Verabschiedung am Hügel zu kommen. Immer schon hatten sie vor dieser Nachricht Angst. Angst, dass irgendwann der Tag kommen würde, wo sie nicht mehr komplett waren, wo einer fehlen würde. Sie hofften, dass es diesen Tag niemals geben würde, gleichzeitig wussten sie aber, dass dies nur ein Verdrängen war. So oft haben sie bei ihren Treffen über den Tod gesprochen und über das Leben und Sterben philosophiert. Auch wenn sie sich einig waren, dass nur der Körper stirbt und die geliebte Seele weiterhin mit ihnen verbunden bleibt, tat diese Nachricht, die so unvorbereitet kam, unglaublich weh. Sie konnten es sich nicht vorstellen, Viktor nie mehr in seiner alten Form zu sehen und zu umarmen, nie mehr mit ihm zu lachen und seinen klugen Weisheiten zu lauschen. Sie spürten eine tiefe Traurigkeit, die von einem starken Vermissen begleitet wurde. Und so war dieses Wiedersehen an einem heißen Tag im Juli an diesem magischen Ort diesmal ganz anders. Einer fehlte. Monas Wunsch war es in weißer Kleidung zur Verabschiedung zu kommen und eine Erinnerungsbox mitzubringen.
Ich kam in einem weißen langen Sommerkleid und brachte Margeriten mit, denn auch ich war Teil dieser jahrelangen Freundschaft. Es tat gut die anderen zu sehen, sich im Schmerz zu umarmen und gemeinsam zu trauern. Wir bildeten einen Kreis und hielten uns an den Händen. Wir sangen Lieder und waren teilweise einfach nur still. Auf Wunsch hielt ich eine kleine Rede, in der ich über die vielen unvergesslichen Augenblicke mit Viktor erzählte und gemeinsam weinten und lachten wir. Im Namen aller bedankte ich mich bei Viktor für die Jahre, wo er für uns als Freund und Impulsgeber, als Wahrheitsfinder und freier Geist ein wertvoller Lichtbringer war. Ich bedankte mich für die wundervollen Begegnungen, die uns immer nährten und beseelten und versprach, dass wir sein Licht in uns weiter tragen werden.
In der Abenddämmerung kamen zwei Rehe zu uns auf den Hügel und schenkten uns mit ihren dunklen Augen einen liebevollen Gruß. Als es kühler wurde, fühlt es sich an, als ob Viktor eine wärmende Decke über uns breitete und bis in die Morgenstunden mit uns gemeinsam das Hinübergleiten feierte.
© Barbara Fath 2024-08-10
Friedrich, der hellste Stern am Himmel
Es war ein kalter Morgen Anfang April als Friedrich für immer die Augen schloss und er tat dies so, wie er auch lebte, ruhig und besonnen. Am Abend davor, als er in seinem gemütlichen Wohnzimmersessel seine Abendpfeife rauchte, rief er behutsam nach seiner Frau: „Inge, Liebling, komm zu mir. Ich möchte mit dir reden. Es geht um mein Herz. Es ist so müde, ich bin so müde. Ich habe eine Vorahnung, ich spüre, dass es bald aufhören wird zu schlagen. Ich kann dir nicht sagen, warum ich das weiß, ich weiß es einfach."
Inge war in der Küche und bereitete eine Gemüsesuppe vor. Sie reagierte bewusst nicht. Während sie Zwiebel, Karotten, Sellerie und Kartoffeln klein schnitt, rief sie ihm zu. „Schatz, Ich kann dich nicht verstehen, ich bin gerade beim Kochen." Friedrich nickte und wusste gleichzeitig, dass sie alles gehört hatte. Inge würzte die Suppe mit Lorbeer und Majoran und nickte ebenfalls, denn sie wusste, dass er mit seiner Vermutung traurigerweise recht haben würde. Sie wusste nicht warum, sie wusste es einfach. Ihre Verbundenheit war einzigartig. Friedrich öffnete das Fenster und schaute in den Sternenhimmel. Immer schon mochte er es, wenn der Himmel klar war und ein funkelndes Sternenmeer zeigte. Als Kind versuchte er oft die Sterne zu zählen. Doch jedes Mal schlief er dabei ein. Und immer wieder nahm er sich vor, es am nächsten Abend erneut zu versuchen. Er war sich sicher, einmal würde es ihm gelingen sie alle zu zählen. Friedrich legte seine Pfeife weg, blickte in den Himmel und begann zu zählen...
Als Inge ins Wohnzimmer kam, fand sie Friedrich schlafend vor. Sie blickte in den Himmel und sah eine Sternschnuppe. „Wie schön“, dachte sie. Sie wusste auch gleich, welchen Wunsch sie der Sternschnuppe mit auf dem Weg geben möchte. Sie nahm Friedrichs Hand, schloss die Augen und streichelte über seine langen Finger. „Ich wünsche, dass Friedrich von einem sanften und liebevollen Engel begleitet wird, wenn er den Weg über die Brücke antritt.“ Während sie seine Hand hielt und der Duft der Gemüsesuppe, sein Lieblingsessen, den Raum einnahm, floss ein Tränenbach über ihre Wangen. Inge blieb die ganze Nacht bei Friedrich sitzen und er nahm ihre Nähe dankbar wahr.
Zwischendurch legte sie ihren Kopf in seinen Schoß und während sie schlief, träumte sie von einem Engel, der sanft von Stern zu Stern flog. Gegen fünf Uhr morgens war die Hand von Friedrich noch warm, doch sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Eine Woche später an einem sonnigen Tag im April wurde Friedrich im kleinen Kreis verabschiedet. Als Trauerrednerin durfte ich über einen besonders klugen und warmherzigen Mann erzählen und über all die schönen Jahre tiefster Verbundenheit mit seiner geliebten Inge. Als tröstende Erinnerung bekam Inge von mir einen großen Stern mit der hoffnungsvollen Botschaft, dass ihr Friedrich sie nun als hellster Stern am Himmel begleiten und beschützen wird. Am Abend setzte sich Inge in Friedrichs gemütlichen Wohnzimmersessel und versuchte die Sterne zu zählen, sobald sie jedoch den hellsten Stern sah, schlief sie ein. Sie probiert es jeden Tag erneut.
© Barbara Fath 2024-07-14
Marianne ging nach Hause
Marianne lag im Sterben. Es waren ihre weißblonden Locken, die ich als Erstes sah, als ich ihr Zimmer betrat. Der Raum wirkte freundlich, obwohl er mit dunklen Möbel ausgestattet war. Es lag an der Energie, die ich wahrnahm. Sie war hell und warm und gar nicht sterbend. Auf ihrem Nachtkästchen stand ein Bild in s/w. Ich sah einen Mann mit Bart, ein kleines Mädchen in einem Kleid und einer Schleife im Haar und eine junge Frau mit langen Locken. Sie standen vor einem Baum, es war ein Apfelbaum im Winter. "Hallo liebe Frau Marianne, ich bin Barbara, ich besuche Sie heute und wenn Sie möchten, reden wir ein bisschen." Sie schaute mich an und lächelte. Ihre Wangen waren gerötet und sie war wohl sehr aufgeregt. "Grüßi-Gott Frau Barbara". Ich lächelte zurück und berührte ihre Hand. Man erzählte mir, dass sie kaum mehr sprach und sich nur mehr in ihren Träumen aufhielt. Doch als ich sie ansah, waren ihre Augen ohne trüben Schleier und sie wirkte klar und präsent.
So richtig kannten wir uns nicht, nur gesehen haben wir uns sehr oft. Immer dann, wenn ich mit Luise, eine Dame aus dem 1. Stock des Pflegeheimes, unterwegs war. Luise ist 92 Jahre und ich besuche sie 2 Mal in der Woche. Meist schiebe ich sie im Rollstuhl durch die Gänge und dann plaudern wir mit den anderen Bewohnern. Im Sommer fahren wir hinaus in den Garten, essen auf der schattigen Terrasse ein Eis und lauschen der Vögel. Mit Marianne haben wir nie geredet. Wenn sie uns sah, beugte sie ihren Kopf über eine Zeitschrift und signalisierte, dass sie ihre Ruhe möchte. Doch stets legte ich beim Vorbeigehen meine Hand auf ihre Schulter und grüßte sie. In letzter Zeit sah ich sie nicht mehr und bevor ich auf der Station nachfragen konnte, kam eine Pflegerin auf mich zu und bat mich, Marianne zu besuchen, denn sie würde bald sterben und sie hätte nach mir verlangt.
Ist das deine Familie?", fragte ich Marianne und zeigte auf das Bild. Und dann begann sie mit zarter Stimme zu erzählen. "Hans war ein lieber Mann, er backte den besten Apfelstrudel mit viel Zimt und Rosinen und er konnte gut Witze erzählen. Zusammen haben wir viel gelacht, doch dann, als unsere Marie verstarb, erlosch seine Heiterkeit. Er konnte den Verlust nicht verkraften und 3 Jahre später ging er ihr nach. Seitdem bin ich alleine. Meine Eltern verstarben sehr früh und Geschwister habe ich keine. In jungen Jahren hatte ich viele Freunde, doch die sind alle bereits gestorben. Ich habe so viele Jahre alleine verbracht, dass ich gar nicht weiß, ob mein Leben wirklich stattgefunden hat. Doch dann erinnere ich mich und spüre die Liebe von Hans und Marie und weiß, dort drüben warten sie auf mich, dort drüben sind wir wieder gemeinsam, gemeinsam in einem anderen Zuhause." Ich streichelte über ihre weißblonden Locken und ihre Wangen. Sie war müde geworden, die Worte haben sie angestrengt. Dass sie plötzlich soviel redete und ihre Geschichte mit mir teilen wollte, berührte mich.
In der Nacht hörte ihr Herz auf zu schlagen. Marianne ging nach Hause. Da niemand mehr da war, der sie verabschiedete, sprach ich bei ihrer Beerdigung die letzten Worte und ich ließ es mir nicht nehmen, auch einen kleinen Witz zu erzählen. Bevor ich ging, verneigte ich mich und legte das Bild mit Hans, Marie und dem Apfelbaum in ihre letzte Ruhestätte. In der Stunde des Abschiedes war sie nicht alleine.
© Barbara Fath 2023-12-17
Hast du gerade HALLO gesagt?
Hallo liebe Freundin, ich bin gerade auf dem Weg zu dir. Ich komme nur deinetwegen hierher, sonst kenne ich hier auf diesem Friedhof niemanden. Die Sonne sticht vom Himmel und ich schwitze. Ich sehne mich nach Kälte und Nebelschwaden, noch besser wäre Regen. Dann könnte ich meinen Kopf unter einer Haube vergraben und den Stoff tief in mein Gesicht ziehen. Ich könnte meine viel zu große Regenjacke anziehen und mich darin verlieren und ich könnte mit Gummistiefeln kräftig in Pfützen treten. Das alles könnte ich tun und niemand würde meine traurigen Augen sehen. Aber nein, so spielt das Leben nicht. Heute haben wir einen wunderschönen Herbsttag und die Wege sind nicht nass und rutschig, sondern trocken und viele bunte Herbstblätter liegen kitschig am Boden und strahlen mit den orangen Kürbissen, die wie kleine Sonnenkinder wirken, um die Wette. Ein lebendiger Tag der Herzen wärmt. Hier am Friedhof gibt es keine Kürbisse, hier gibt es Kerzen, viele Kerzen. Im Schneckentempo spaziere ich durch die steilen Friedhofsgänge und beginne die Gräber zu zählen und auch die Kerzen und auch die vielen putzigen Keramikengel. Bis zu deinem Grab ist es noch ein Stück. Vor über 10 Jahren ging dein Plan hier zu Ende.
Seit damals hat sich vieles verändert. Auch ich. In den vergangenen Jahren habe ich mir oft gedacht, dass dein Fortgehen meine Entwicklung war. Wobei dieser Weg oft wahrlich kein gemütlicher Spaziergang war. Manchmal war er sehr steinig und schwierig, oft aber auch erwachend und pulsierend. Und du warst auf deiner flauschigen Wolke immer da und hast mich durch diese Zeit getragen, hast mir geholfen so manchen Wahnsinn gut zu filtern. Was würdest du zu dieser veränderten Welt heute sagen? Ich kann gerade deinen kritischen Geist vor meinen Augen sehen. Ich bin mir sicher, du wärst mit so vielem nicht einverstanden. Ich sage dir was, ich bin es auch nicht.
Die Tränen, die ich manchmal noch weine, sind Wasser der Sehnsucht, der Liebe und Dankbarkeit. Niemand lehrt mich besser, was Leben und Sterben bedeutet. Deine Abwesenheit zeigt mir, dass Freude und Leid die größten Lehrmeister unseres Erdenlebens sind, dein woanders Sein zeigt mir aber auch, dass der Tod nicht trennen kann. WOW, wie weit man heute in die Ferne sehen kann. Du hattest recht, von hier oben hat man den besten Ausblick über die Stadt. Bei dieser Aussicht wolltest du für immer liegen bleiben. Ich kann dich verstehen. Ein Stück noch, dann bin ich bei dir angekommen. Was war das für ein Geräusch? Hast du gerade HALLO gesagt? Ich könnte schwören, dass da gerade jemanden Hallo gesagt hat.
Die mitgebrachten Blumen, es sind Lilien, lege ich neben deinem Kopf, damit du sie gut riechen kannst. Das nächste Mal komme ich bei Regen und dann springen wir gemeinsam über Pfützen und rutschen mit dem Hintern den Berg hinunter an Gräber vorbei und haben Spaß so wie damals. Unvergessen! Best Friends for ever!
© Barbara Fath 2022-10-31
Die gelbe Linie
Seine rechte Hand war steif und hing bewegungslos an seinem Arm. Eigentlich war sie unbrauchbar. Ein Unfall war die Ursache. Dennoch spielte er Karten, fuhr mit dem Rad und half dort, wo er gebraucht wurde. Sein Lächeln kam aus dem Herzen. Er war ein froher und gütiger Mann. Schade, dass ich ihn nur kurz kennenlernen durfte. Wo ist er hin, als er starb? Denke ich an ihn, denke ich auch an einen anderen Mann. Dieser war kaum gesprächig. Er war irgendwie brummig und in sich gekehrt. Es schien, als ob er mit seinen Gedanken stets weit weg war. Vielleicht aber wollte er einfach nur seine Ruhe haben. Manchmal sitze ich auch nur so da, wie er damals, und dann schaue ich ins Leere. Schade, dass ich mich nie richtig mit ihm austauschen konnte. Wo ging er hin, als er viel zu früh starb? Und dann, schmerzlich und unbegreiflich, ging auch sie hinter diese Linie. Zack und weg war sie. Sie ging dorthin, wo auch die beiden Männer waren. So vermute ich jedenfalls. Würde ich diese Linie zeichnen, wäre sie auf meinem weißen Blatt Papier ein gelber, dünner Strich. Wie ein verlockend strahlender und doch so unwissend endgültiger Sonnenstrahl. Würde ich morgen über diesen hüpfen müssen, also sterben müssen, würde ich mich heute, an diesem ersten und letzten Tag, auf ein Wiedersehen mit diesen drei Menschen freuen und mich vorbereiten. Damit ich ja nichts vergesse, würde ich sämtliche Fragen notieren, denn meine Neugierde ist groß und nur sie haben die Antworten. Dann würde ich mich hübsch machen und sehr aufgeregt werden. Würden wir uns erkennen? Schließlich sind wir nun schon Jahrzehnte getrennt. Sind sie auch mit mir alt geworden? Ich denke schon, oder nicht? Soll ich Geschenke mitbringen? Und was brauche ich eigentlich dort, in diesem unbekannten Dahinter? Ich weiß, nichts brauche ich. Aber wie fühlt sich nichts an? Wie es aussieht, würde ich wohl diesen einen letzten, ersten und auch einzigen Tag, mit genau solchen Fragen verbringen. Oder sind das jetzt nur spontane, fiktive Gedanken und nichts davon würde genau so geschehen? Denn wahrscheinlicher wäre wohl, dass ich eine extreme Angst hätte und sich meine Gedanken quälend traurig an jene richten würden, die ich loslassen und zurücklassen müsste.
Nicht zu wissen, wann es Zeit ist hinter die Sonne zu gehen, ist ein Geschenk. Würde ich es wissen, könnte ich ziemlich sicher schwer damit umgehen. Außer ich würde nur eine Geschichte schreiben wollen, dann würde ich wohl aufzählen, was mir meine Gedanken flüstern und wonach sich mein Herz sehnt. Wenn ich vom Leben erzähle und gleichzeitig über die Endgültigkeit nachdenke, vermischen sich meine realen und verträumten Worte, Sätze und Gefühle. Diese Linie wäre auf meinem weißen Blatt Papier bestimmt ein dünner, rosa Strich. Jetzt aber, da ich mit der Sonne aufwachen durfte, zeichne ich eine hoffnungsvolle, grüne Linie und mit dieser gehe ich in einen neuen, schönen Tag, lebendig und zuversichtlich - danke dafür!
© Barbara Fath 2021-07-07
"Olle müssma sterben"
Zuerst las Oma die Traueranzeigen, dann folgte das TV-Programm und später überflog sie den Lokalteil. Politik und Sport ließ sie weg, das interessierte sie nicht. Beim Lesen der Zeitung galt ihre größte Aufmerksamkeit den Todesanzeigen. Wer war gestorben, wie alt sind die Leut´ geworden und wen kannte sie? Bekannte Namen zu finden und sich deren möglichen tragischen Geschichten zu widmen, war ihre Vormittagsbeschäftigung und fast so spannend wie das Lösen von Kreuzworträtseln. Sie würde eh auch bald sterben und in der Zeitung stehen. Das hörten wir sie jahrzehntelang bei bester Gesundheit sagen.
An Tagen, wo die Anzeigen sie enttäuschten, weil sie niemanden fand, den sie kannte, schob sie mir die Zeitung hin und bat mich genauer nachzusehen. Vielleicht kannte ja ich jemanden und vielleicht konnten wir ja doch noch eine *mei, wie tragisch* Unterhaltung führen. „Nein Oma, es tut mir leid, ich kenne hier wirklich niemanden. Warum machst du das eigentlich?“, fragte ich kopfschüttelnd, „das belastet doch.“ „Mich belastet das nicht, olle müssma sterbn“, sagte sie und nahm die Handlupe, um ja kein Detail zu übersehen. Sie war auch überzeugt davon, je größer eine Todesanzeige, desto beliebter waren wohl die Verstorbenen. „Ich bin schon gespannt, wie groß mein Inserat einmal werden wird“, ließ sie uns stets wissen.
Oma Maria war eine religiöse Frau und ihre Sichtweisen etwas speziell. Am besten war es, mit ihr so wenig wie möglich auf Konfrontation zu gehen. Mir gelang das recht gut und ich versuchte, sie so oft wie möglich zum Lachen zu bringen. Manchmal sah ich, wie sie nach oben schaute, um zu fragen, ob sie das wohl eh durfte. Manchmal hatte sie aber keine Zeit für heilige Rückfragen, dann versprühte sie spontan ein herzhaftes, lautes Lachen samt ein wenig Spucke. Ihre Backen wurden dabei ganz rot und sie hielt ihren Bauch fest.
Vor drei Jahren wurde Oma müde. In den letzten Wochen erkannte sie mich nicht mehr. „Jö, die Frau mit dem Hund ist wieder da“, freute sie sich, wenn ich sie besuchte. Einmal spielten wir noch Schnapsen. Sie war die Königin dieses Kartenspiels und gewann fast immer. Alle Damen ihrer Kartenrunde waren leider bereits verstorben. Und dann kam ihr letzter Stich. Es war abends, ich saß neben ihrem Bett und streichelte ihre Hand. Sie tat sich schwer loszulassen. Ich wollte ihr helfen, wusste aber nicht wie. Gebete würden ihr gefallen, kam mir der Gedanke. Ich googelte, wurde fündig und las aus dem Handy laut vor. Das war sehr unkonventionell, das wusste ich, doch ich spürte ihre Dankbarkeit. Dann versprach ich noch, dass sie eine ganz große Anzeige bekommen würde und auch ein schönes Gedicht von mir. Am nächsten Morgen kam der Anruf, dass sie bei Opa und der Kartenrunde angekommen ist. In letzter Zeit verweile auch ich länger bei den Todesanzeigen. Liegt's am Alter, am Weltwahnsinn oder an meinen Gedanken über Würde und Sterben?
„Schau Oma, jetzt hast du eine Geschichte auch noch bekommen“ und während ich sie schreibe, sende ich einen Zwinker nach oben.
© Barbara Fath 2021-04-22